Wer war Joseph Pilates?
Joseph Pilates, geboren 1883 in Mönchengladbach, entwickelte seine Methode „Contrology“ durch Turnen, Boxen und Yoga. 1926 emigrierte er in die USA, wo er sein Studio eröffnete.
Kindheit und Grundlagen für seine spätere Trainingsmethode
Joseph Hubertus Pilates, oft „Joe“ genannt, wurde am 9. Dezember 1883 in Mönchengladbach geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Seine Familie zog häufig um, wodurch er in der Schule keine feste Gemeinschaft fand und sich oft als Außenseiter fühlte.
Der verschlossene Joseph Pilates beobachtete seine Mitschüler lieber, als mit ihnen zu spielen. Aufgrund seines Namens war er auch eine beliebte Zielscheibe für Hänseleien. Stattdessen zog er sich in die Natur zurück und verbrachte viel Zeit im Hardter Wald, wo er Tiere beobachtete und ihre geschmeidigen, natürlichen Bewegungen bewunderte. Diese Beobachtungen legten den Grundstein für sein späteres Verständnis von Bewegung und Körperkontrolle.
Sein Vater, Friedrich Pilates, war ein begeisterter Turner und Mitglied des Gladbacher Turnvereins Eintracht. Er führte Joseph früh an das Turnen heran, das damals eine Vielzahl an Disziplinen umfasste, darunter Bodenturnen, Geräteturnen und Freiübungen. Die Körperarbeit mit Hanteln und Gewichten und das Ringen gehörten ebenfalls zu den traditionellen Turndisziplinen.
Joseph empfand große Freude beim Turnen und war ein ehrgeiziger Schüler. Er bewunderte die muskulösen Körper der erwachsenen Turner und strebte danach, ebenso stark zu werden. Er beobachtete sie so lange, bis er verstand, welchen Teil des Körpers eine Übung stärken sollte. Er bewunderte die Eleganz seines Vaters, mit der dieser die Übungen ausführte, während er über andere schmunzelte, wie steif und ungelenkig sie sich bewegten. Joseph turnte nach den Vorgaben seines Vaters und übte jede Bewegung so lange, bis er sie perfekt beherrschte. Im Stillen dachte er sich aber damals schon andere Varianten aus.
Die damalige Turnbewegung war den kämpferischen Ideen des „Turnvaters“ Friedrich Ludwig Jahn weiterhin verbunden, der 1811 in Berlin den ersten Turnplatz gegründet hatte, um Gymnasiasten körperlich für die Befreiungskriege gegen Napoleon zu rüsten. Das Ziel war nicht nur die Verbesserung der Volksgesundheit, sondern auch die Vorbereitung der jungen Männer auf den Wehrdienst. So ließ sich auch Boxen problemlos als Element des Turnens denken. Sein Vater führte ihn und seinen jüngeren Bruder Friedrich in diese Sportart ein, die ihm half, Disziplin und körperliche Kontrolle zu entwickeln. Das Boxen spielte eine große Rolle in seiner Jugend.
Ein einschneidendes Erlebnis in seiner Kindheit war der Tod seiner kleinen Schwester Gertrud, der ihn tief berührte. Sie wurde nur 2 Monate alt. Ein Arzt, der das kranke Kind behandelte, bemerkte Josephs ungewöhnliches Interesse an der menschlichen Anatomie und schenkte ihm ein altes Anatomiebuch. Fasziniert von den Abbildungen, begann Joseph, die Strukturen seines eigenen Körpers zu erforschen und gezielt Übungen zu entwickeln, um seine Muskulatur zu stärken und besser zu kontrollieren. Sein unermüdliches Üben zeigte Wirkung und verwandelte das schmächtige Kind in einen kräftigen jungen Mann mit außergewöhnlicher Körperbeherrschung. Diese Erfahrungen und Veränderungen durch ein bewusstes Training und gezielte Übungen prägten ihn nachhaltig und bildeten die Grundlage für seine späteren Trainingsmethoden.
Mit 16 Jahren (1900) zog Joseph von zu Hause aus und begann eine Lehre als Bierbrauer in Neuwerk, einem Vorort von Mönchengladbach. Kurz darauf verlor er seine Mutter sowie zwei seiner jüngeren Brüder, was dazu führte, dass seine Familie auseinanderbrach. Nach dem Tod seiner Frau verließ Josephs Vater Friedrich Pilates Gladbach. Er zog nach Gelsenkirchen ohne seine Kinder. Während seine Geschwister bei Verwandten unterkommen, musste Joseph sich allein durchs Leben schlagen. Er konzentrierte sich zunehmend auf sein körperliches Training, das ihm Kraft und Halt gab. Es war seine Kraftquelle.
Nach seiner Lehre zum Bierbrauer arbeitete Joseph Pilates einige Zeit als Braugeselle. Häufig wechselte er den Arbeitsplatz, um mehr freie Zeit für seine Leidenschaft, die Körperkultur, zu gewinnen.
Hatte Joseph Pilates als Kind Asthma?
Häufig wird immer wieder betont, dass er ein kränkliches, schwaches Kind gewesen sei und gezwungen war, sich zu kräftigen. Das Asthma fügte Clara hinzu. 1972, nach einem Interview mit Clara über Joseph Pilates, hielt diese Information Eingang in die Vielzahl der Biografien von Joseph Pilates. Dennoch gibt es einige Gründe, dies anzuzweifeln. Zu Joseph Pilates Lebzeiten war es unter starken Männern eine Bande und gab Geschichten darüber zu erzählen, wie schwach sie als Kind gewesen seien.
Eugen Sandow zum Beispiel, der weltberühmte Bodybuilder und „Joseph Pilates großes Vorbild“ schrieb in seinem Buch: „Kraft und wie man sie erlangte“: „Als Kind war ich selbst außerordentlich zart. Mehr als einmal hatte man mein Leben aufgegeben. Bis zu meinem 10. Lebensjahr wusste ich kaum, was Kraft ist.“ – Das entsprach zwar nicht den Tatsachen – er war ein sportliches, gesundes Kind – aber auf diese Weise wollte er die Wirksamkeit seiner Trainingsmethode betonen. Das erinnert doch sehr an Joseph Pilates Idee, sich um drei Jahre älter zu machen, damit der verjüngende Effekt seiner Methode besser zur Geltung kam.
Ein weiterer Grund, diese Behauptung anzuzweifeln, ist, dass Joseph Pilates im Gegensatz zu drei Geschwistern das kritische Kleinkindalter überlebte, was auf eine robuste Konstitution hindeutet. Angesichts der hohen Kindersterblichkeit damals erschien die Asthma-Geschichte eher als PR-Gag, inspiriert von Eugen Sandow.
Auswanderung nach England und erster Weltkrieg
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg 1912 ging Pilates nach England. Er arbeitete eigenen Angaben zufolge dort als Boxer, Zirkusartist und Trainer für Selbstverteidigung. Er trainierte dort die Beamten des Scotland Yard.
Boxen und Pilates scheinen zwei Welten zu sein, die nichts miteinander zu tun haben. Doch das Boxen zieht sich wie ein roter Faden durch Pilates‘ Leben. Er lernte es von seinem Vater, für den das Boxen genau wie die Übungen an Geräten zum Turnen dazu gehörte. Das war nicht selbstverständlich, denn im Preußen des späten 19. Jahrhunderts galt Boxen allgemein als roher Sport, als typisch englisch und damit unpatriotisch, öffentliche Boxveranstaltungen waren verboten.
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 wurde er wie alle deutschen Männer als „feindlicher Ausländer“ interniert. Im September 1915 wurde er aus einem Lager in Lancaster in das Internierungslager Knockaloe auf der Isle of Man gebracht. Unter den Internierten – über 20 000 Männer aus Deutschland, Österreich und der Türkei – waren viele Boxer. Erfahrene Männer wie der Stuttgarter Toni Abele, der in England als Profi geboxt hat, und junge Talente wie der spätere deutsche Meister im Schwergewicht, Hans Breitensträter. Das Training konnte beginnen!
In dieser Zeit begann er intensiv, sein Konzept eines ganzheitlichen systematischen Körpertrainings zu entwickeln. Er beschäftigte sich mit Yoga und studierte Tierbewegungen. Diese Zeit gilt als entscheidend für die Entwicklung seiner späteren Methode, die er selbst „Contrology“ nannte.
Pilates unterrichtete seine Mitgefangenen in der von ihm entwickelten Methode und er wurde schnell zu einem wichtigen Teil der Boxgemeinschaft von Knockaloe.
Wie intensiv und hochklassig das Training war, das die Boxer in Knockaloe organisierten, zeigte sich in den zwanziger Jahren. Zurückgekehrt aus der Internierung läuteten die Boxer aus Knockaloe das erste goldene Zeitalter des Boxsports in Deutschland ein und dominierten über Jahre die Boxszene.

Pilates im Internierungscamp auf der Isle of Man (rechts vorne)

Lageralltag im Knockaloe Camp

Turner und Boxclub im Lager
Rückkehr nach Deutschland und erste Erfindungen
1919 kehrte Joseph Pilates nach Deutschland zurück und gründete in Gelsenkirchen eine Boxschule und stieg selbst in den Ring. 1922 berichtete die Box Sport über mehrere Profikämpfe von Joseph Pilates. Zu dieser Zeit meldete er seine erste Erfindung an: eine „Vorrichtung zur Beseitigung von Bein- und Fußfehlern“.
1923 zog er nach Hamburg, er machte zwar seine Boxschule zu und beendete seine aktive Boxer Karriere, das Boxen spielte aber nach wie vor eine wichtige Rolle in seinem Leben. In Hamburg unterrichtete er Polizisten in Selbstverteidigung und arbeitete mit Rehabilitationspatienten. Während dieser Zeit entwickelte er den Reformer und reichte einen weiteren Patentantrag ein. Der Reformer ist bis heute ein zentrales Element des Pilates-Trainings.

Sein erstes Gerät „Vorrichtung zur Beseitigung von Bein- und Fußfehlern“, heute als Foot Corrector bekannt. Abbildung von Gratz Pilates
Auswanderung in die USA und Gründung des Studios
1926 wanderte Pilates in die USA aus. Während der Überfahrt lernte er Clara kennen, die später seine dritte Ehefrau wurde. Gemeinsam eröffneten sie in der 8th Avenue 939 in New York City ein Studio für Körperübungen. Nat Fleischer, ein Box-Journalist aus New York, unterstützte ihn und vermittelte ihm Klienten, und so kam es, dass auch Boxer zu seinen ersten Klienten zählten.
Ihr Studio lag im selben Gebäude wie das New York City Ballett. Und so wurde sein Studio ein beliebter Treffpunkt für Tänzerinnen vom Broadway, Choreographen, Schauspielerinnen, Komponisten, Musiker, Schriftstellerinnen und Damen der Gesellschaft. Besonders in der Ballettszene wurde Pilates’ Methode geschätzt.
Sie kamen wegen des effektiven Trainings, das innerhalb weniger Monate den Körper biegsamer und stärker, straffer und schlanker machte. Die Tänzer*innen schätzten seine Fähigkeit, Verletzungen schnell und ohne Operation in den Griff zu bekommen. Seine Frau als Krankenschwester führte zu einer sanften und rehabilitativ ausgerichteten Weiterentwicklung seines Konzeptes. Aus dieser Anfangszeit und aus den Inhalten, dem Fokus der Zentrierung und Stabilisierung des Körpers, erklärt sich die enge Verbindung zum Tanz.
Tänzer wie Martha Graham und George Balanchine zählten zu seinen Unterstützern. Auch Schauspielerinnen wie Katharine Hepburn und Lauran Bacall trainierten nach seiner Anleitung.


Erstes Studio in New York in der 8th Avenue
Verbreitung seiner Methode und spätere Jahre
Joseph Pilates widmete sein Leben der Verbreitung seiner Methode. Er träumte davon, die Menschheit gesünder und glücklicher zu machen. Er wollte was erreichen, er wollte Erfolg haben und seine Methode auf der ganzen Welt bekannt machen. Er war unglaublich intelligent und geschickt, hatte schon in den 30er und 40er Jahren besondere Fähigkeiten fürs Marketing.
1945 veröffentlichte er das Buch „Return to Life Through Contrology“, das die Prinzipien seiner Übungen beschrieb. In unzähligen Briefen versuchte er, Ärzte, Politiker und die Öffentlichkeit von der Wirksamkeit seiner Methode zu überzeugen. Sein Briefwechsel mit Beratern von Präsident John F. Kennedy zeugt von seinem Engagement, die Methode national zu etablieren.
Ein exzentrischer Charakter
Joseph Pilates war bekannt für seinen exzentrischen Lebensstil. Er trug meist nur eine Badehose, rauchte trotz seiner Gesundheitsphilosophie Zigarren und Zigaretten und konnte gegenüber Klienten schroff werden, die seine Übungen nicht so ausführen, wie er es erwartete. Dennoch blieb die Mehrheit seiner Schüler ihm über Jahrzehnte treu, nicht zuletzt dank seiner Frau Clara, die im Studio eine ruhige und unterstützende Rolle einnahm.
Pilates arbeitete individuell und kreativ. Für jeden einzelnen Klienten erstellte er ein eigenes Übungsprogramm und entwickelte sogar neue Übungen für die entsprechende Person. Er praktizierte bis ins hohe Alter hinein und verfasste Bücher über seine Technik.

“Return to Life Through Contrology“ 1945 veröffentlicht
Nach seinem Tod
Er starb im Alter von 83 Jahren an einem Lungenemphysem in New York, ohne ein Testament zu hinterlassen oder die Nachfolge und Weiterführung seiner Arbeit zu regeln. Clara Pilates, die als die begnadete Lehrerin galt, unterrichtete und führte das Studio weiter bis zu ihrem Tod zehn Jahre später. Für das Fortleben ihrer Ideen sorgten Schüler, die eigene Studios eröffneten und die Methode weiterentwickelten.
Kurz vor seinem Tod äußerte er: „I’m 50 years ahead of my time!“ – „Ich bin meiner Zeit 50 Jahre voraus!“ Diese Aussage erwies sich als wahr. Zwar blieb sein Name zunächst unbekannt, doch seine Methode wurde international berühmt und hat seine Vision von einer gesünderen und glücklicheren Gesellschaft nach seinem Tod erfüllt. Heute ist Pilates ein Synonym für effektives Körpertraining und Rehabilitation.

Joseph Pilates und seine Frau Clara in ihrem Studio in New York